Barbara Limberg: Stellungnahme zur Anfrage von Axel Koppetsch (Bewertung von Zwischenarchivgut, das bereits wissenschaftlich genutzt wurde )  

a) M. E. sprechen rechtliche Gründe nicht gegen die Kassation bereits benutzter und zitierter Unterlagen. Wie bereits von Herrn Koppetsch ausgeführt, obliegt die Bewertungsentscheidung letztendlich allein der Verantwortung des Archivars bzw. der Archivarin. Selbst den abgebenden Stellen kommt allenfalls das Recht einer Stellungnahme zu.

Der Satz, was einer gesehen hat, darf dem anderen nicht verwehrt werden, muss m. E. nicht unbedingt gelten. Denn zum einen kann man argumentieren, dass durch die Bewertung nicht nur eine Differenzierung in archivwürdig und kassabel stattfindet, sondern auch eine Umwidmung von Altregistratur-/Zwischenarchivgut in Archivgut, die zu einer anderen Qualität führt. Hier ist in der Tat zu unterscheiden. Auch die Archivgesetze scheiden zwischen "Unterlagen, die älter als 30 Jahre sind und noch der Verfügungsgewalt der in § 2 Abs. 1 bezeichneten Stellen unterliegen" (§ 5 Abs. 8 BArchG, der die Benutzung speziell dieser Unterlagen regelt) und "Archivgut". Von Archivgut ist etwa gemäß § 5 Abs. 1 S 1 BArchG erst zu sprechen, wenn "es sich um Unterlagen von bleibendem Wert im Sinne des § 3 handelt". (Andere Archivgesetze enthalten ähnliche Regelungen). Erst die Bewertung führt dazu, dass behördliches Schriftgut zu Archivgut wird. Der Benutzer findet somit zumindest formal nach der Bewertung etwas anderes vor. Das BArchG gewährt also nur einen Anspruch auf a) Unterlagen, die noch nicht bewertet wurden, aber älter als 30 Jahre sind, und b) Archivgut, nicht aber auf Unterlagen, denen bei der Bewertung kein bleibender Wert zugesprochen werden konnte. Der bloße Umstand, dass jemand Unterlagen benutzt hat, kann kein Kriterium für den bleibenden Wert darstellen (vgl. dazu u. b)).

Diese Argumentation mag der ein oder andere als Paragraphenreiterei empfinden, indes gilt auch für den Gleichheitssatz das, was grundsätzlich für das grundrechtlich geschützte Nutzungsinteresse gilt: Es steht nicht für sich allein, sondern in Relation zu anderen Zielsetzungen.

Gerade auch in diesem Zusammenhang sollte man sich fragen, ob die Argumente; die für die Kassation sprechen, nicht auch hier für sich sprechen? - Vor allem dann, wenn die gleichen bzw. entsprechende Informationen auch anderen Überlieferungen bzw. Unterlagen, Statistiken, Druckwerken etc. entnommen werden können. Bedenken muss man auch die Folge- und die Opportunitätskosten, die entstehen, wenn man sich quasi der Bewertungsentscheidung entzieht. Kann man diese verantworten? Überwiegen diese Überlegungen nicht die Interessen der - nur mutmaßlich, denn eine Benutzung muss die nächste nicht zwangsläufig nach sich ziehen- nachkommenden Benutzer? Wie groß ist der tatsächliche Nutzen für den Benutzer, der durch die Endarchivierung geschaffen würde? Wird ein denkbares Forschungsvorhaben durch die Kassation vereitelt, indem der Weg zur Information abgeschnitten wird, oder wird der Weg zur Information allenfalls dahin erschwert, dass der Benutzer nicht einfach auf den Fundstellennachweis zurückgreifen kann?

Ich möchte nun nicht dazu aufrufen, den Umstand der Benutzung zu ignorieren. Im Gegenteil, ich selbst habe in Benutzung befindliche Akten, die mangels qualifizierender Mitwirkung zu kassieren gewesen wären, als archivwürdig bewertet, weil die entsprechenden Akten der federführenden Stelle verschollen sind. Der Umstand der Benutzung sollte durchaus zur Reflexion aufrufen, zur genaueren Überprüfung und Abwägung führen (der Benutzer kann sehr wohl einen Wissensvorsprung haben), wobei durchaus die Materie der fraglichen Akte, eventuell auch das Thema, unter dem die Benutzung beantragt wurde, die Substituierbarkeit etc. zu berücksichtigen sind. Gerade der grundrechtlich verbürgte Gleichheitssatz - wenn man ihn denn hier gelten lassen will - gebietet eine angemessene Abwägung von Nutzungsinteresse und archivischen Zielsetzungen.

Worum es mir hier geht, ist, sich nicht durch die Benutzung zu pauschalen Entscheidungen hinreißen lassen. Die Verantwortung kann einem niemand abnehmen, und zu rechtfertigen hat man sich nicht nur gegenüber den potenziellen Benutzern.

b) Die tatsächliche, inhaltliche Benutzung selbst ist kaum nachweisbar, allenfalls die Bestellung der Akten. Diese kann unterschiedlichen Motiven unterliegen, möglicherweise auch einem Fehler bei der Angabe der Signatur. Gerade im Bereich des Zwischenarchivguts besteht die Möglichkeit, dass hier Akten nur als Ersatz benutzt werden, weil die eigentlich einschlägigen Unterlagen noch nicht zugänglich sind oder der Zugang beschwerlicher erscheint. So wird etwa die Überlieferung einer nur mitwirkenden (eventuell sogar nur nachrichtlich eingeschalteten) Stelle benutzt, weil die federführende Stelle noch nicht abgegeben hat, weil man sich etwa die Reise in ein anderes Archiv oder auch nur die Suche in einem anderen Bestand ersparen möchte. Extremer wird es noch, handelt es sich um einfache Materialsammlungen wie Presseausschnittssammlungen. Möglicherweise hat der Benutzer einfach nur alles bestellt, was er zu einem Thema ermitteln konnte, wobei er aus Unkenntnis Redundanz in Kauf nimmt. Für die Bestellung von Archivgut gibt es eine Vielzahl von Motiven, die mit der Archivwürdigkeit nicht unbedingt gleichzusetzen sind.

Da man seine Bewertungsentscheidungen grundsätzlich begründen sowie transparent halten sollte, sollte es auch nicht schwer fallen, sie nachfolgenden Benutzern zu verdeutlichen.